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1. Kapitel

Der Schwindel vom "False Memory Syndrom"

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Die Falle der Vergebung
von Barbara Rogers


Die Beziehung zwischen Eltern und Kind wird von dem Gebot geprägt, daß man die Eltern ehren und ihnen vergeben soll—während bei der Behandlung von Kindern die Wichtigkeit der Disziplin betont wird. Warum denken wir in diesen Prioritäten über diese einzigartige Beziehung, in der ein Teil alle körperliche, emotionale und mentale Macht hat, dazu die Verantwortung, formbaren, unschuldigen Kindern ein gutes Vorbild zu sein—und wo der andere Teil abhängig und machtlos den Eltern ausgeliefert ist?


Diese unterschiedlichen Erwartungen an Eltern und Kinder machen in Wirklichkeit deutlich, wie Macht benutzt wird. Um sich des Gehorsams und der Loyalität ihres Kindes zu versichern ist es Eltern nicht nur erlaubt, sondern sie werden sogar ermutigt, alles anzuwenden, was sie als Disziplin bezeichnen. Was auf diese Weise als "Strafe" an Kinder ausgeteilt wird, lehrt sie, daß Macht das Recht hat mit Gewalt und Erniedrigung vorzugehen—und daß dies akzeptable Formen menschlichen Verhaltens sind, wenn sie von den Mächtigen praktiziert werden. Das machtlose Kind hat keine Menschenrechte.


Wir lehren Kinder, daß sie andere nicht angreifen oder verletzen dürfen. Wie können wir ein gutes Beispiel geben, wenn wir die Menschenrechte unserer Kinder nicht achten—vor allem ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit? Es gibt Eltern, die ihre Kinder mit fürsorglichem Respekt behandeln und sie mit sinnvoller Orientierung liebevoll führen. Doch körperliches Strafen wird noch immer von sehr vielen Eltern befürwortet und angewendet. Vom Leiden mißhandelter Kinder wendet die Gesellschaft sich schweigend ab. Gesetze zum Schutz der Kinder werden mißachtet. Und später im Leben werden diese mißhandelten Kinder aufgefordert zu vergeben—wenigstens an einem "gewissen Punkt"—wenn sie versuchen, oft durch therapeutische Arbeit, mit den Folgen der erlittenen Qualen fertig zu werden.


Das Gebot, daß wir unsere Eltern ehren müssen, setzt einen destruktiven Mechanismus von der Kindheit ins erwachsene Leben hinein weiter fort—daß Kinder ohne Respekt und mit Gleichgültigkeit für ihre Würde, Menschlichkeit und Menschenrechte mißhandelt werden können. Die wahren Gefühle eines Kindes, das unter seinen Eltern leidet, werden entweder ignoriert oder als nicht-existent, ungehorsam, rebellisch, respektlos und nachtragend bezeichnet.


Doch dieser Mechanismus blockiert nicht nur die Gefühle des Kindes sondern auch sein Selbst-Verständnis, sein Verständnis für seine Vergangenheit und für die gegenwärtigen Probleme in seinem Leben. Dieser Mechanismus wird durch den Glauben aufrechterhalten, daß grenzenlos Mächtige berechtigt sind zu bestrafen, zu erniedrigen, zu demütigen und die Gefühle und den Schmerz des Kindes zu ignorieren, zu bagatellisieren oder gar zu verachten; durch den Glauben, daß Eltern es immer verdient haben, geehrt zu werden und Vergebung zu finden; und durch den Glauben, daß das Unterdrücken der Wahrheit des Kindes und seiner wahren Gefühle "Vergebung" ist.


Selbst wenn kein Elternteil das Kind um Vergebung bittet oder es zu verstehen sucht, so wird dennoch die Vergebung als Allheilmittel für Ärger und Haß und als Weg zu innerem Frieden gelobt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß ich inneren Frieden fand, indem ich mir selbst vergab—vor allem dafür, daß ich einen Weg einschlug, der mich immer weiter von meinen Eltern und ihren Überzeugungen entfernte. Jeder Schritt, den ich auf diesem Weg machte, führte mich näher zu meinem wahren Selbst.


Wut, Haß oder Schmerz werden nur dann als Problem bezeichnet, wenn sie in Kindern erscheinen, die unter Mißhandlungen leiden, oder die sich später durch eine Therapie von diesem Leiden befreien wollen. Erwachsene können selbst die grausamste und rachsüchtigste Behandlung an ihren Kindern hinter dem euphemistischen Wort "Disziplin" verbergen und dadurch rechtfertigen.


Meine Mutter war immer in einem Zustand des Leidens und der Bitterkeit, als ich heranwuchs. Ihre unkontrollierten, wütenden Ausbrüche terrorisierten mich und meine Geschwister. Sie praktizierte nicht Vergebung an ihren Kindern. Erzieherische Ratschläge empfahlen ihr nicht, daß man Kindern vergeben sollte, sondern betonten die Bedeutung des Strafens. Der Glaube meiner Mutter, daß sie mit ihrem Strafen und uns Verfolgen im Recht war, gab ihr freie Hand, alles an uns auszulassen, womit sie innerlich kämpfte. Ich brauchte viele Jahre in meiner Therapie um emotional zu begreifen, daß ihre Handlungen und Überzeugungen falsch und grausam waren und daß ich nicht das schuldige, böse Monster war, als das sie mich darstellte. Ich lernte erst spät in meinem erwachsenen Leben—als ich endlich die innere Kraft und Stärke hatte—daß ich das Recht habe, auch meiner Mutter Grenzen zu setzen, um nicht mehr durch ihre Kälte, Mitleidlosigkeit und grausame Härte verletzt zu werden.


Ich weiß durch meine lange therapeutische Reise, daß jeder Mensch verschiedene Gefühle erlebt, je nachdem, was in ihrem/seinem Leben geschieht oder aus der Vergangenheit angemahnt wird. Diese Gefühle erschaffen unsere Lebendigkeit und formen, zusammen mit unseren Bedürfnissen, unser Selbst.


Seit vielen Jahren lebe ich nicht nur in geographischer Distanz zu meiner Mutter sondern auch ohne Kontakt mit ihr. Oft wird mir geraten, daß ich ihr vergeben soll. Doch indem ich mich von ihr entfernt halte, schütze ich mich vor ihr—vor ihrer sturen Selbstgerechtigkeit; vor ihrem endlosen Selbstmitleid; vor ihrem Mangel an Bereitschaft, mich und die Tragik meines Lebens verstehen zu wollen; und vor ihrer Forderung, daß ich den Inzest mit meinem Vater verleugnen soll. Indem ich mich abgrenze, kann ich mir selbst treu sein. So ist es mir möglich, meine Gefühle und Gedanken frei und kraftvoll zu erleben, denn ich muß sie nicht mehr ihr zuliebe begraben.


Indem ich die Erwartung der Vergebung hinter mir gelassen habe, bin ich nicht ein Mensch geworden, der in Ärger oder Haß feststeckt. Wenn solche Gefühle auftauchen, was selten vorkommt, schaue ich nach, ob eine schmerzliche Kindheitserinnerung berührt wurde. Wenn es nötig ist, schreibe ich, damit ich sie mit Mitgefühl für mich verstehen kann. Und dann vergebe ich mir selbst, daß ich so schwer leiden mußte—ohne die Kraft zu haben, mich zu wehren, verteidigen, beschützen oder mein Leben und meine Beziehungen verändern zu können. Schließlich wende ich mich meinem gegenwärtigen Leben zu, wo das Ergebnis die Erkenntnis ist, daß ich hier und heute anders leben kann; daß ich nun die Möglichkeit habe, eigene Entscheidungen zu treffen, die gut für mich sind; daß ich mich wehren und meine Meinung äußern kann; und daß ich die Pflicht habe, mich und mein Wohlergehen zu schützen.


Ich betrachte dieses Mir-Selbst-Vergeben als eine unabdingbare, wichtige therapeutische Heilquelle. Diese Art von Vergebung würde ich mißhandelten Kindern nahelegen, die als Klienten in einer Therapie arbeiten, um vergangene Traumen zu bewältigen.


Einseitiges Vergeben, oder eine vergebende Einstellung, den Eltern gegenüber heilt nicht die Traumen und destruktiven Mechanismen der Vergangenheit. Es schiebt sie nur tief zurück in das Unbewußte, mit dem unausgesprochenen jedoch eindeutigen Befehl: "Bleibe gefälligst dort; störe nicht und fange ja nicht wieder an zu bluten; ich habe alles überwunden; meine Vergangenheit habe ich bewältigt—also werde ich dir nicht zuhören!" Es fordert nicht die Eltern oder die Gesellschaft auf, sich mit der Verantwortung mißhandelnder Erwachsener auseinander zu setzen und die Folgen von Kindesmißhandlungen zu erkennen und ernst zu nehmen. So wird die Realität und Wahrheit mißhandelnden Verhaltens unter den Teppich der Vergebung gekehrt—und kann so tragisch und destruktiv an der nächsten Generation wieder ausgelassen werden.


Wenn die Vergangenheit und das Leiden des Kindes anerkannt, besprochen und mitgeteilt werden können; wenn ein Elternteil Mitgefühl, Verständnis und Bedauern ausdrücken kann und fähig ist, ihre/seine Verantwortung anzuerkennen—dann fließt die Vergebung frei, ohne daß sie gefordert werden muß. Doch viele wenden das Konzept der Vergebung auf verständnislose, nachtragende Eltern an, die nichts vergeben und von dem Schaden, den sie angerichtet haben, nichts hören wollen—geschweige denn, daß sie sich aufrichtig dafür entschuldigen, Geschehenes bedauern oder Einfühlung und Mitgefühl für ihr Kind aufbringen. So wird Vergebung zu einer unsichtbaren, verborgenen Fessel, die das Opfer weiter an den Täter bindet. Mit der Empfehlung, oder gar dem Gebot, vergeben zu müssen, werden die Stimmen und die Wahrheit der Opfer zum Schweigen gebracht. Ich nenne diesen Mechanismus die Falle der Vergebung.


Die Falle der Vergebung läßt uns glauben, daß wir mit dem Erkennen dessen, was uns in der Kindheit verletzt, geschadet und deformiert hat, fertig sind. Daher bemühen wir uns nicht weiter, uns dessen bewußt zu werden und es zu verarbeiten. Dabei ist das nicht nur in unserem eigenen Interesse wichtig, sondern auch, damit wir nicht verletzendes, unfreundliches und mißhandelndes Verhalten an der nächsten Generation wiederholen.


Um Gefühle von Schmerz, von Ärger, von Protest, von Haß zu überwinden wird dem Opfer das Vergeben angeraten—als ob das die Probleme, die eine schwere Kindheit erzeugt hat, auflösen kann. Diese Art von Vergebung bedeutet, daß ich meine wahren Gefühle, Gedanken und meine Lebendigkeit wieder unterdrücken muß. Sie würde das tiefste Bedürfnis, das ich mein Leben lang gehabt habe, beenden—mir selbst treu sein zu können. Nur wenn ich für alle meine Gefühle und Erinnerungen, die sich melden, offen bin, kann ich von ihnen lernen und mir selbst treu sein.


Ich habe Menschen erlebt, die in Gefühlen von Wut, Haß, Leiden, Selbstmitleid, Eifersucht, oder anderen, gefangen sind. Sie brauchen nicht die Vergebung um ihre Not zu überwinden, sondern aufklärende Therapie. Oft wissen sie nicht einmal, daß diese zwanghaften, überwältigenden Gefühle durch traumatische Kindheitserfahrungen ausgelöst wurden.


Auf meiner therapeutischen Reise—mit verschiedenen Therapeuten, verschiedenen Formen von Therapie, und viel eigenem Therapieschreiben—brauchte ich Zeit, um meine Gefühle von Wut, Traurigkeit, Protest oder Haß erleben und ertragen zu können. Sobald sie akzeptiert und verstanden waren, gingen sie vorbei und machten innerem Frieden Platz. Sie enthüllten ein schmerzliches Kindheitserlebnis, das dadurch ganz einfach zur Tatsache wurde.


Das Konzept der Vergebung ist oft beladen mit wagen Vorstellungen und einer dogmatischen religiösen Energie. Es soll Schuldgefühle im mißhandelten Menschen aktivieren. Es beutet alte Schuldgefühle aus, die in der Kindheit angesammelt wurden. Es läßt eine nur allzu bekannte, vergangene Form von Kontrolle über unsere Gefühle und Bedürfnisse ins erwachsene Leben und in die Therapie andauern. Es verhindert, daß wir freie, starke Erwachsene werden, die ihre Wahrheit aussprechen können und die liebevoll für sich selbst und ihre wahren Bedürfnisse sorgen können.


Alle anderen Verbrechen kommen vor Gericht, werden angeklagt und bestraft. Doch Verbrechen von Eltern an ihren Kindern müssen im Geheimen und voller Scham in der Therapie bearbeitet und verborgen werden. Dann werden sie mit dem Rat, alles zu vergeben, begraben. Gerechtigkeit erhalten sie nie.


Es ist menschlich und sinnvoll auf das Ausagieren von Rachegedanken zu verzichten. Doch Vergebung wird zur Falle, wenn destruktive Schuld-Fesseln an die Eltern verhindern, daß gesunde, uns beschützende Grenzen geschaffen werden können, die unser Selbst unterstützen und unser Wohlergehen fördern.


Während die Bedeutung der Vergebung für Eltern immer wieder empfohlen wird, wird die Vergebung von Eltern nicht erwartet. Ratschläge an Eltern werden von dem Wort Disziplin beherrscht, das Klapse, Schläge, Prügel und andere erniedrigende Verhalten befürworten kann. Diese Praktiken sind entwürdigend und unmenschlich. Sie würden, an Erwachsenen ausgeübt, oft als Folterung bezeichnet werden.


Was würde geschehen, wenn wir Vergebung und Verständnis für unsere Kinder betonen würden—anstatt sie ausschließlich von ihnen zu verlangen? Dann gäbe es gar nicht mehr die Situation, in der Kinder mißhandelndes Verhalten vergeben müßten, denn sie hätten Mitgefühl, Vergebung und Liebe erfahren und nicht die nachtragende Verhaltenssprache der Unmenschlichkeit und des Nicht-Vergebens in Form von gnadenlosem, hassendem elterlichen Verhalten.


Warum erwarten wir nicht von Eltern, daß sie ihrem Kind vergeben? Kinder müssen Fehler machen und von ihnen lernen können. Sie müssen mit Verständnis und Mitgefühl, auf sinnvolle, menschliche Weise geführt werden, ohne die Qualen der Gewalt und Erniedrigung erleiden zu müssen. Nur so erfahren sie Liebe und werden befähigt, Leben zu bauen und eine Welt zu schaffen, die nicht von Gewalt geprägt sind.

© Barbara Rogers, März 2005

 

Lesen Sie auch den ausgezeichneten Artikel über den "Mythos der Vergebung" bei netzwerkB

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