Ihre Entgegnung an Alice Miller

   
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Briefe an Barbara

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Ausbruch aus dem Nebel der Bewunderung

 

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other responses to Alice Miller

   

 

 

Liebe Barbara,

nun muss ich Ihnen doch einmal schreiben, nachdem ich Ihren Essay "Ausbruch aus dem Nebel der Bewunderung" gelesen habe. Sie haben recht, es stimmt etwas nicht in dem Werk Alice Millers, jedenfalls an manchen Konzepten, ohne, dass man so genau sagen kann, was es eigentlich ist. Es ist Ihnen gelungen, sich unabhängig zu machen und Ihre Überzeugungen nicht zu verraten, und ich wollte Ihnen schreiben, um Ihnen zu sagen, dass ich diese Einschätzung teile. Außerdem zeigt ja die Reaktion Ihres Körpers, dass sie anscheinend bei Alice Miller nicht wirklich frei waren, Ihre Wahrheit zu äußern. Aber das ist doch gerade die Voraussetzung für eine gute Freundschaft,dass man eben über ALLES reden kann. Ich glaube auch, dass Alice Miller einige Dinge nicht bewältigen konnte; ich denke, ihre Kindheit war sehr schlimm, und sie tut mir in der Rückschau auch wirklich leid.


Doch wenn es dann geschieht, dass Menschen Ihre Wahrheit nicht zulassen können, weil Alice Miller sie daran hindert - oder sagen wir besser: die affektive Bindung, die Sie zu Alice Miller hatten - Sie daran hindert - dann bleibt einfach nur die Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Ich fand es schade, dass Ihre Leserbriefantworten entfernt worden sind, denn ich konnte nie entdecken, dass Ihre Antworten schlecht oder verwirrend sind. Sie haben mir einmal geantwortet, dass ich das Recht hätte, auf MEINER Seite und auf der Seite MEINER Bedürfnisse - und wie ich jetzt hinzufügen würde - auf der Seite MEINER Wahrheit zu stehen, und diese Antwort braucht auf keiner Seite im Internet stehen, damit sie mir hilfreich sein kann, nur hilft sie jetzt leider anderen nicht mehr.


Ich denke, der Konflikt zwischen Alice Miller und Ihnen hat am allerwenigsten wirklich etwas mit der IFS Therapie zu tun. Für mich wäre diese Therapie vielleicht nichts, weil ich auf anderen Wegen meine Wahrheit suche, doch wenn sie Ihnen hilft und anderen hilft - was soll man da dagegen haben? Sie können ja nur aus Ihrer Erfahrung sprechen, und wenn diese gut ist, dann müssten Sie sich ja zwingen zu lügen, um das Gegenteil zu behaupten - und das kann man von Ihnen nicht erwarten, von niemandem. Nein, ich denke der Konflikt hatte tieferliegende Gründe, worüber wir jedoch nichts wissen. Mir fällt auf, dass Alice Miller in Ihrem Leben sehr oft Idealisierungen - und wenig darauf - Entwertungen vorgenommen hat. Das spricht nicht sehr dafür, dass sie ein befreites Rollenvorbild war. Aber das fiel mir auch erst auf, als ich mich meiner eigenen Geschichte zu nähern begann (ich hatte einen Traum, und kurze Zeit darauf sah ich klarer). Wie man sieht zementiert Spiritualität wirklich die Blindheit der Kindheit (und vice versa könnte man sagen, denn man kann der Spiritualität so lange nicht entkommen, wie die Blindheit noch existiert).
Ich wünsche Ihnen alles Gute aus Deutschland.

Mit liebem Gruß

C. S.

 

 

Lieber C. S.,


vielen Dank für Ihre Gedanken zu Alice Millers Werk, und auch, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, sie mir mitzuteilen. Ihr Brief hat einiges bei mir in Bewegung gebracht. Es fühlt es sich tröstend an, daß Sie denken, daß dieser Konflikt tieferliegende Gründe hatte, über die wir (noch) nichts wissen. Ja, Alice Miller hat in ihrem Leben nicht nur Menschen, sondern auch Therapieformen idealisiert, um sie später scharf zu entwerten und zu verurteilen. Für mich ist sie kein befreites Rollenvorbild mehr.

Alice Miller hat mich nicht idealisiert, meine ich; doch sie hatte Freude an meinem Denken und Fühlen, so habe ich es erlebt. Ihre aggressive, anklagende Abwendung von mir war die Strafe dafür, daß ich nicht mehr bedingungslos für sie da sein konnte und eigene therapeutische Ideen hatte, und vor allem eigene therapeutische Erfahrungen gemacht hatte. Als sie sich so gewaltsam gegen mich wendete, um mich und meine Arbeit zu entwerten, da vertraute sie plötzlich einem Menschen, ihrem neu erwählten Moderator, den sie nicht kannte. Sie idealisierte ihn, da stimme ich ihnen zu, weil sie von ihm glaubte, er habe in drei Jahren -- ohne therapeutische Arbeit und ohne das Erlebnis einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung gemacht zu haben -- seine aus der Kindheit stammende Blindheit und Verwirrung aufgeben können. Dieses neue Forum endete nach nur neun Monaten.

Ich erlebe heute Alice Millers vereinfachten Glauben an die Allheilkraft des "wahren Selbst" -- das, wie sie glaubte, in unseren erwachten Gefühlen, durch das Erkennen traumatischer Kindheitsrealitäten und das Lesen ihrer Bücher und Einsichten wieder zum Vorschein kommen soll -- als eine gefährliche, doktrinäre Sackgasse. Wenn man beginnt, einiges über seine Kindheit zu sehen und zu verstehen, ist man erst am Anfang einer langen Reise zu sich selbst -- jedoch mit Sicherheit nicht wundersam geheilt und mit seinem (wahren) Selbst vereint. In ihren ersten Büchern empfahl Alice Miller die Psychoanalyse, dann Stettbachers Primärtherapie, und zuletzt ihre Bücher und Website als magische Auswege, die Menschen Erlösung von den Leiden ihrer Kindheit schenken würden.

In dem faszinierenden Buch "This Changes Everything" von Christina Robb freue ich mich an wichtigen Einsichten über menschliche Beziehungen, auch über die Beziehung zwischen KlientIn und TherapeutIn, die ich in Alice Millers Denken nicht finde, die jedoch meine Erfahrungen mit menschlichen Beziehungen widerspiegeln. Die folgende Aussage über "This Changes Everything" führt ein in ein Nachdenken über Beziehungen, das weit über Alice Millers Werk hinaus geht: "Dieses Werk [das Buch "This Changes Everything"] handelt davon, wie die Demokratie die Psychologie einholte und verwandelte. Es handelt von den tiefsten Wahrheiten, die wir kennen, solchen die unser Leben retten, solchen für die wir zur Universität gehen oder uns an bedeutende Autoren, weise Freunde und psychologische Experten wenden, um zu lernen. Es handelt davon, was Liebe wachsen läßt, und was Liebe ausmerzt und Angst und Verachtung einprägt."
Mehr Auszüge finden Sie bei der Website:
http://www.christinarobb.com/excerpts.htm

Die TherapeutInnen der Beziehungspsychologie verstehen das Selbst nicht als einen einsamen Kämpfer. Sie machten die Erfahrung, daß wir Menschen verständnisvolle, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen brauchen, damit wir unser Selbst, unsere Authentizität und unsere eigene Stimme erleben können. Doch Beziehungen waren nicht Alice Millers Sache. Ihre Kindheit war geprägt vom Ausmerzen der Liebe und Einsäen von Angst und Verachtung, wie es alle mißbrauchten Kinder erleiden müssen. Ihr Leben war ein sehr einsamer Kampf, von Kindheit an, dann im Krieg, und blieb es später auch beim Schreiben ihrer Bücher. Weil die Einstellung der schwarzen Pädagogik gegen das leidende Kind so überwältigend in der Gesellschaft und unter vielen Therapeuten und Therapieformen verbreitet ist, war die Wahrheit über die Not mißbrauchter und vernachlässigter Kinder, von der Alice Millers Werk handelt, vielen nicht willkommen. Das tat Alice Miller weh und trug zu ihrer Isolierung bei; sie suchte Verständnis und Resonanz für ihre Erkenntnisse, die sie bei ihren Lesern und zunehmend in der therapeutischen Welt durchaus fand. Es ist und bleibt Alice Millers bewegende Begabung, in ihren Büchern schreckliche Realitäten der Kindheit furchtlos aufzuzeichnen -- und das konnte sie nicht nur mit Worten, denn in ihren Bildern hat sie es ja auch eindrucksvoll durch das Malen getan.

Ja, so wie es Ihnen ergeht, denke ich auch, daß es schwierig ist, genau zu sagen, was an diesem Werk nicht stimmt, denn so lange konnte ich es nicht merken. Es war mein Glück, daß ich in den USA innovative therapeutische Erfahrungen machen konnte. Ich vermute, daß es letzten Endes diese Erfahrung war, die uns auseinandergebracht hat. Sie blieb Alice Miller verwehrt, und so führte ihr Weg immer tiefer in die Isolation. Das Erlebnis von wachsendem Vertrauen in uns selbst, das sich in einer empathischen therapeutischen Beziehung entfaltet, ist zutiefst prägend dafür, daß wir die verschüttete Fähigkeit entwickeln, verständnisvoll mit uns selbst und anderen, die es gut mit uns meinen, umzugehen -- und nein zu Mißachtung und zu Mißbrauchern sagen zu können. Meine Vorstellungen vom wahren Selbst, und wie Liebe für uns selbst und in menschlichen Beziehungen wachsen kann, haben sich weit von Alice Millers Überzeugungen entfernt. Alice Millers Betonung der Wut als Mittel der Therapie, und als wesentliches Mittel ihres persönlichen Selbstausdrucks, sehe ich heute als eine hoffnungslose Einschränkung menschlicher Entwicklung.

In meiner Erfahrung ist die Grundlage für Veränderungen durch die Therapie eine vertrauensvolle, empathische therapeutische Beziehung, die es möglich macht, daß sich Mitgefühl und Verständnis für uns selbst entfalten. Dieses Erlebnis einer echten therapeutischen Beziehung hat Alice Miller nicht gemacht und auch gescheut. Was Sie beobachtet haben: Verehrung und dann Abwendung, sind für mich Pole -- oder Parts, um die IFS Sprache zu benutzen -- ihres Verhaltens, die ihr selbst nicht bemerkbar und nicht aufgelöst waren. Für mich sind Idealisierung und Entwertung die Notsignale eines schweren Betrugstraumas, über das Jennifer Freyd forscht und viel geschrieben hat, auch das Buch "Betrayl Trauma." Hier finden Sie ihre Website:
http://dynamic.uoregon.edu/~jjf/
Die englische Definjtion des Betrugstraumas können Sie hier lesen:
http://dynamic.uoregon.edu/~jjf/defineBT.html
Meine Gedanken zum Betrugstrauma habe ich hier geschrieben:
http://www.screamsfromchildhood.com/war_against_truth.html

Mir wird immer klarer, daß Alice Miller mit den Auswirkungen des Betrugstraumas nicht vertraut war. Sie vereinfachte den therapeutischen Prozeß auf das Erkennen der Kindheitsgeschichte und das Wüten. Zum Leiden an traumatischen Erfahrungen gehört auch das Abspalten von Gefühlen und Erinnerungen, weil sie für unser inneres System zu überwältigend und schmerzlich waren, und es auch heute noch wären. Doch der therapeutische Umgang mit Dissoziation, einer weiteren schmerzlichen Bürde traumatischer Erfahrungen, war ihr nicht vertraut. Weder als Klientin noch als Therapeutin hat sie vertrauensvolle therapeutische Beziehungen gebaut oder erlebt. Ohne Unterstützung einer vertrauensvollen, tragfähigen therapeutischen Beziehung können wir nicht das Vertrauen in uns selbst aufbauen, das es uns ermöglicht, unseren verdrängten Gefühlen und Erinnerungen, sowie unserem inneren Schmerz mit Verständnis und Mitgefühl zu begegnen.

Daß die Wut und das Wissen um Traumen uns befreien, ist eine fahrlässige Vereinfachung der Beschaffenheit und Einzigartigkeit der menschlichen Psyche und eines hilfreichen therapeutischen Prozesses. Genauso sehe ich im Anpreisen dieser Sichtweise als Allheilmittel für alles seelische Leiden eine Anmaßung, die Alice Millers Lesern das Selbstvertrauen raubt, von dem sie doch so viel schreibt. Wenn wir unseren Weg zu uns selbst suchen, brauchen wir Ermutigung, uns selbst zu vertrauen -- nicht therapeutische Gebote und Vorschriften. Ich muß ehrlich sagen, daß ich manchmal das Bild vom Rattenfänger von Hameln vor mir habe, wo viele leidende Menschen Alice Miller glauben und vertrauen, weil sie endlich eine Melodie hören, die nach Wahrheit klingt. Doch weil Alice Miller behauptet, daß nur sie den wahren therapeutischen Weg kennt, führt die Gefolgschaft zu ihr in eine Falle der Selbst-Täuschung und des Verlusts nicht nur unseres Selbstvertrauens, sondern einer echten Verbindung mit unserem Selbst.

Mir haben die IFS Therapie, die Beziehung mit meinen Therapeuten und mit anderen verständnisvollen Menschen, wo meine Stimme leben kann, und die Arbeit als Therapeutin und Moderatorin des our_childhood_international Forums geholfen, mir selbst mit Mitgefühl und Verständnis zu begegnen und immer mehr zu vertrauen, gerade auch in der schweren Krise nach Alice Millers Angriff. Richard Schwartz schreibt: "IFS ist mehr als eine therapeutische Technik. Es ist ein Rahmenkonzept und die Praxis, uns selbst und andere zu lieben." Auf der Website des Center for Selfleadership können sie mehr dazu finden: http://www.selfleadership.org/

Ich denke, daß die neuen Erkenntnisse der heutigen innovativen TraumaforscherInnen und TraumatherapeutInnen Alice Miller nicht erreichten. Sie machte schon seit vielen Jahren keine Erfahrungen mehr mit therapeutischen Beziehungen, weder als Klientin, noch mit Klienten. So blieben ihre Einsichten an der Oberfläche des Wissens, welches wir inzwischen über Auswirkungen von Traumen und hilfreiche Therapien haben. Sie klagte alle Therapieformen und Therapeuten an, daß sie es dem Klienten nicht ermöglichen, die kindliche Realität zu erkennen und Wut auf die Eltern zuzulassen. Ich habe andere Erfahrungen gemacht, die Alice Miller nicht zur Kenntnis nehmen wollte, um an ihrem Irrglauben festzuhalten, daß nur sie die Wahrheit weiß und schreibt.

Eine Beziehung mit unserem Selbst und Liebe zu uns selbst wachsen nicht magisch durch Erkenntnisse über Kindheitstraumen. Der fühlende Austausch und eine tiefe, verstehende Kommunikation mit unserer inneren Welt bauen wachsende Selbstliebe und Selbstsicherheit auf. Das ist kein magischer Prozeß, sondern eine Entwicklung, die sich in menschlichen, achtungsvollen und vertrauensvollen therapeutischen Beziehungen entfalten kann. Dieses Erleben ist für mich ausschlaggebend für das Heilen der bei jedem Menschen einzigartigen Auswirkungen von Kindheitstraumen auf einem selbstständigen, eigenen therapeutischen Weg.

Alice Miller glaubte, ihr wahres Selbst im willkürlichen Ausagieren ihrer Gefühle, vor allem ihres Zorns, zu finden und (aus) leben zu müssen. Das ist für mich ihr Betrug an ihren Lesern -- diese eiserne Sturheit, mit der sie an dieser Selbsttäuschung festhielt und diese als erfolgreiches Therapiekonzept anpries. Ich sehe es als Alice Millers Tragik, daß die Schriftstellerin, deren Buch "Am Anfang war Erziehung" mich auf die Suche nach meinem wahren Selbst brachte, mit der Suche nach ihrem wahren Selbst scheiterte. Für mich blieb sie ein von ihren Parts und deren (selbst) destruktiven Agenden beherrschter, leidender Mensch. Inzwischen kann ich wahrnehmen, wie die schwarze Pädagogik und die Psychoanalyse, die sie überwinden wollte, in ihrem Denken und Handeln weiterlebten. Das Bewußtwerden des Zusammenhangs zwischen traumatischer Kindheitsrealität und erwachsenem Leiden schenkt uns noch nicht eine neue Form der liebevollen inneren Kommunikation. Und es bedenkt nicht, wie die Dissoziation Teile unseres traumatischen Leidens, schmerzliche Erinnerungen, überwältigende Gefühle und die grauenvolle Not des Betrogenseins und der kindlichen Isolation und Verlassenheit, abspaltet.

Ihre Leidenschaft, über die Ursachen und Folgen von Kindesmißbrauch aufzuklären, wird Alice Miller vielen Menschen, auch mir, unvergeßlich machen. Sie hat ein sehr mutiges und entschlossenes Leben gelebt. Doch sie blieb eine Gefangene ihrer Kindheit.

Mit herzlichem Dank für Ihre Anregungen und vielen guten Wünschen für Ihren eigenen Weg,
Barbara